Schweiz

Skandal um bezahlte Unterschriften: Diese verbieten? Leichter gesagt als getan

Analyse

Bezahlte Unterschriften verbieten? Leichter gesagt als getan

· Online seit 04.09.2024, 06:14 Uhr
Das Geschäft mit bezahlten Unterschriften für Volksinitiativen floriert und lädt ein zu Betrügereien. Selbst bei einem Verbot bleibt die Versuchung dieser «Abkürzung» gross.
Peter Blunschi / watson
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Die direkte Demokratie ist der Stolz der Schweiz. Zuletzt aber geriet sie unter Druck. Kürzlich musste der Bund zugeben, dass er sich bei der AHV gehörig verrechnet hat und die finanzielle Lage des populärsten Sozialwerks deutlich besser ist als gedacht. Die Grünen haben deshalb eine Beschwerde gegen die Abstimmung über die AHV 21 eingereicht.

Es war nicht der erste «Rechenfehler» des Bundes, der eine Abstimmung potenziell beeinflusst hat. Und nun erschüttert eine Tamedia-Recherche die politische Schweiz. Beim Einsatz von bezahlten Unterschriftensammlern kam es offensichtlich zu Fälschungen in grossem Stil, vor allem in der Westschweiz, wo zahlreiche dieser Firmen ihren Sitz haben.

Aufgedeckt wurde der Skandal von Noémie Roten, der Co-Präsidentin der Volksinitiative für einen Service Citoyen. Als sich abzeichnete, dass es für die nötigen 100’000 Unterschriften eng werden würde, wandte sie sich an eine einschlägig bekannte Lausanner Firma. Diese bot an, innerhalb eines Monats 10’000 Unterschriften zu beschaffen, für 4.50 Franken pro Stück.

Systematischer Betrug

Die vertraglich abgemachte Beglaubigung durch die Gemeinden aber musste Roten selbst erledigen. Es stellte sich heraus, dass ein grosser Teil der Signaturen ungültig war. Dabei kristallisierten sich «Muster heraus, die auf einen systematischen Betrug hindeuten», so Tamedia. Dazu gehörten Adressen, die es nicht gibt, oder identische Unterschriften.

Ganz neu sind die Vorwürfe nicht. Anfang 2023 berichtete die SRF-«Rundschau» über einen ähnlichen Fall. Es ging um die Volksinitiative «Blackout stoppen», die eine Aufhebung des AKW-Bauverbots anstrebt. Die Initianten zahlten dem gleichen Unternehmen sogar 7.50 Franken pro Unterschrift. Dabei standen seine Methoden schon damals im Zwielicht.

«Angriff auf die Demokratie»

«Es wird getrickst, es wird geschummelt, die Zahl der ungültigen Unterschriften explodiert», sagte Marc Wilmes, dessen Unternehmen Komitees bei der Beglaubigung unterstützt, der «Rundschau». Mit der Pandemie, die das Sammeln erschwerte, habe sich das Problem verschärft. Gegenüber Tamedia sprach Wilmes von einer «Katastrophe» und einem «Angriff auf die Demokratie».

Belege für die Schummeleien gibt es zahlreiche. Dazu gehört die Praxis, einfach die Briefkästen von Wohnblocks «abzuschreiben». In grösseren Städten und Gemeinden kommt man mit diesen Tricks durch. Dort werden beim Beglaubigen bestenfalls Name und Adresse geprüft. Ob auch die Unterschrift stimmt, können und wollen die Behörden nicht abklären.

Bundeskanzlei schöpft Verdacht

Heftige Reaktionen auf die neusten Enthüllungen blieben nicht aus. Die atomkritische Schweizerische Energie-Stiftung (SES) verlangte am Dienstag in einer Mitteilung einen «sofortigen Marschhalt» beim von Bundesrat Albert Rösti letzte Woche angekündigten Gegenvorschlag zur «Blackout stoppen»-Initiative, bis die Vorwürfe zur Unterschriftensammlung geklärt seien.

Im Parlament gab es verschiedentlich Vorstösse vor allem von linker Seite, den Kauf von Unterschriften zu verbieten. In den Kantonen Genf und Neuenburg ist dies bereits der Fall. Sie scheiterten bislang am Widerstand der Bürgerlichen und des Bundesrats. Dabei hatte die für die Volksrechte zuständige Bundeskanzlei schon 2022 selbst Verdacht geschöpft.

Welsche gegen Foie Gras?

Sie reichte eine Strafanzeige bei der Bundesanwaltschaft ein und hat sie seither wegen neuer Verdachtsfälle «mehrfach ergänzt», sagt Mediensprecher Urs Bruderer den Tamedia-Zeitungen. Sie beträfen rund ein Dutzend eidgenössische Volksinitiativen. Dazu gehört wohl auch die Ende 2023 eingereichte Initiative für ein Importverbot von Stopfleber.

Sie kam sehr knapp zustande, und mehr als die Hälfte der Unterschriften wurde in der Westschweiz gesammelt. Also in jenem Landesteil, in dem Foie Gras als eine Art Kulturgut betrachtet wird. In einer repräsentativen watson-Umfrage waren 65 Prozent der Westschweizer gegen das Importverbot und 89 Prozent der Deutschschweizer dafür.

Mit Lügen erschlichen

Angesichts dieses «Foie-Gras-Grabens» erstaunt es, dass angeblich so viele Romands die Initiative unterschrieben haben. Das allein muss nichts heissen, es gilt auch in diesem Fall die Unschuldsvermutung. Es fällt jedoch auf, wie viele Unterschriften auch bei anderen knapp zustande gekommenen Initiativen aus dem Kanton Waadt stammen, in dem einige bezahlte Sammler tätig sind.

Letztlich ist das Problem systembedingt. Das Sammeln von Unterschriften für Initiativen und Referenden ist aufwendig und mühsam, was Schummeleien begünstigt. Das Westschweizer Fernsehen RTS berichtete 2020, dass beim Referendum gegen den Vaterschaftsurlaub Unterschriften mit der Lüge «erschlichen» wurden, man sammle für den Vaterschaftsurlaub.

Verdeckt statt offen

Ähnlich lief es beim Referendum gegen das Verbot der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung. Dabei wurde wahrheitswidrig behauptet, es gehe darum, den Schutz für Homosexuelle zu verbessern. Der Kauf von Unterschriften erzeugt zusätzliche Anreize für Betrug, im wahrsten Sinn um jeden Preis. Schliesslich verdient man damit Geld.

Die jüngsten Enthüllungen dürften den Widerstand gegen ein Verbot im Parlament bröckeln lassen. Es fragt sich, wie es sich durchsetzen liesse. Initiativkomitees werden auch in Zukunft in Versuchung geraten, bei einer nahen Deadline mit Geld nachzuhelfen – einfach verdeckt statt offen. Und die Sammler werden sich um ein raffinierteres Vorgehen bemühen.

E-ID und Transparenzvorschriften

Solange den Gemeinden die Ressourcen für eine gründliche Beglaubigung fehlen, ist die Gefahr gross, dass sie damit durchkommen. Ein mögliches «Gegenmittel» wäre eine politische Plattform des Bundes, auf der man Initiativen und Referenden unterschreiben könnte, wie sie die Tessiner Grünen-Nationalrätin Greta Gysin postuliert.

Sie möchte auch ein E-Collecting zusammen mit der geplanten E-ID einführen. Dies könnte das Fälschungsrisiko zumindest minimieren. Der Campaigner Daniel Graf befürwortete in einem NZZ-Interview eine Ausweitung der Transparenzvorschriften. Wenn die Komitees ihre Budgets offenlegen müssten, werde klar, «wer mit bezahlten Sammlern gearbeitet hat».

Damit mag ein unangenehmer Generalverdacht verbunden sein. Auch liesse sich das Betrugsrisiko nicht völlig unterbinden. Das erschütterte Vertrauen in die direkte Demokratie aber könnte gestärkt werden. Denn derzeit müssen wir mit dem Gefühl leben, in nächster Zeit über Initiativen abzustimmen, die auf faire Weise nicht zustande gekommen wären.

veröffentlicht: 4. September 2024 06:14
aktualisiert: 4. September 2024 06:14
Quelle: watson

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