Zürich

«Stille Stunde»: Im Spar in Zürich kaufen autistische Menschen in Ruhe ein

Zürcher Spar-Filialen

«Stille Stunde»: So können autistische Menschen in Ruhe einkaufen

04.03.2024, 14:51 Uhr
· Online seit 15.05.2023, 08:06 Uhr
Hell, hektisch und laut: Beim alltäglichen Posti-Gang werden autistische Menschen von Reizen überflutet. In 13 Spar-Filialen in den Kantonen Zürich und Aargau gibt es deshalb die «Stille Stunde». Was ist das?
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Kassen piepsen, Kinder quengeln, Postiwägeli rattern über den Boden. Menschen hetzen im grellen Licht von Gemüse zu Milch und wieder zurück. Ein Lautsprecher preist die neuesten Aktionen an. Und dann ist das Ziel in Sicht, die Kasse: Doch an Self-Checkout und Kasse staut es sich wie vor dem Gotthard zu Ostern –  und die Nerven liegen blank. Nein, Einkaufen ist kein Zuckerschlecken.

Von allen Seiten strömen Reize ein, was das alltägliche Posten zu einer Tortur machen kann. Einen besonders grossen Stress stellt der Einkauf für Menschen im Autismus-Spektrum dar. Sie können Reize nicht so gut filtern wie neurotypische Menschen. Für sie ist das Einkaufen zu normalen Stunden fast unmöglich.

«Stille Stunde» in 13 Spar-Filialen

In 13 Spar-Filialen in den Kantonen Zürich und Aargau hat man darauf reagiert. Hier können Kundinnen und Kunden zweimal pro Woche während einer «Stillen Stunde» einkaufen. Stille Stunde – was heisst das?

«Während der ‹Stillen Stunde› reduzieren wir das Licht um ein Drittel. Wir schalten das Radio aus, die Screens flackern nicht und es ertönen keine Werbedurchsagen. Auch öffnen wir eine Kasse mehr als normalerweise», erklärt Hans Ruedi Schnellmann, Geschäftsführer der Spar-Partnerin Neue Schnellmann Detailhandels AG, im Gespräch mit ZüriToday.

Struktur ist für Autistinnen wichtig

Das Einkaufen ohne Geräuschkulisse findet in den Spar-Filialen immer an denselben Tagen und zur selben Zeit statt – denn Struktur ist essenziell. «Autistische Menschen brauchen diese Geborgenheit», erklärt Schnellmann.

Dies bestätigt Regula Buehler, Geschäftsleiterin Autismus Deutsche Schweiz, im Gespräch mit ZüriToday: «Veränderungen können grossen Stress auslösen. Routine ist für Menschen mit Autismus daher sehr wichtig.»

«Stille Stunde» stammt aus Neuseeland

Die «Stille Stunde» ist keine Schweizer Erfindung. Erstmals konnten autistische Menschen in Neuseeland in Ruhe einkaufen. Das war 2018.

«Ich las in einem Zeitungsartikel über die ‹Stille Stunde›», erzählt Schnellmann. Er dachte sich, er könne das auch machen. «Ich wollte der Gesellschaft etwas retour geben», schildert er den Beginn der «Stillen Stunde» in der Schweiz.

Auch Regula Buehler hatte davon gelesen – und von Betroffenen gehört, die Mühe mit dem Einkauf hatten. «Ich habe dann alle Detailhändler angeschrieben.» Mitgemacht hat schlussendlich nur Hans Ruedi Schnellmann mit seinen Spar-Filialen.

Seit 2020 gibt es die «Stille Stunde» Schweiz

2020 starteten Autismus Deutsche Schweiz und Schnellmann mit vier Pilotprojekten. «Auf dem europäischen Festland waren wir die Ersten», so Buehler.

«Zu Beginn mussten wir der Kundschaft erklären, warum im Spar plötzlich alles dunkel ist», erinnert sich Schnellmann. Doch das Feedback sei positiv gewesen, weshalb sie das Projekt auf mehr Filialen ausweiten konnten.

Autistinnen und Autisten fühlen sich wohl

Autistinnen und Autisten können online einkaufen, so eine verbreitete Meinung. «Aber das ist doch eine weitere Einschränkung!», findet Schnellmann. Dank der «Stillen Stunde» im Spar könnten autistische Menschen am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. «Man kann nicht immer nur ausgrenzen. Es gehört zu unserer Gesellschaft, dass wir mithelfen.»

Dementsprechend froh seien autistische Menschen über das Angebot. Schnellmann hat ein besonderes Erlebnis im Kopf: Eine Mutter sei in den Spar gekommen und sagte: «Endlich kann ich meinen Tagesablauf so gestalten, wie ich es gerne hätte! Niemand schaut mich an, wenn mein Kind schreit, niemand fragt, warum mein Kind Kopfhörer trägt.›»

«‹Stille Stunde› ist für alle offen»

Nicht nur Menschen mit Autismus sind froh, dass sie in Ruhe einkaufen können. «Es sind auch ältere Menschen darunter», sagt Schnellmann. Schnellmann stellt klar: «Die Stille Stunde ist für alle offen.»

Buehler findet die «Stille Stunde» eine «super Sache» und ergänzt: «Wir bewegen uns in solch einer lauten Welt, dass man eigentlich froh sein soll, wenn es mal leise ist.»

Ruhe tut Mitarbeitenden gut

Die «Stille Stunde» stellt für die Spar-Mitarbeitenden einen Bruch im Alltag dar. «Es arbeiten mehr Personen auf der Einkaufsfläche als zu normalen Zeiten», erklärt Schnellmann. Sie putzen mehr und achten darauf, dass keine lauten Personen die Ruhe im Laden stören.

Anfangs seien die Mitarbeitenden skeptisch gewesen, erklärt Schnellmann. Doch mittlerweile geniessen sie es, wenn es ruhiger und nicht so hektisch ist. «Die Kunden werden langsamer und sie verhalten sich uns gegenüber anders, wenn es still ist. Das tut den Mitarbeitenden gut», führt er aus.

Andere Detailhändler haben keine «Stille Stunde»

Bei Coop, Migros, Lidl und Aldi gibt es keine «Stille Stunde». Und es ist nichts geplant, wie die Detailhändler auf Anfrage von ZüriToday schreiben. Lidl, Aldi und Migros beobachten das Thema «mit grossem Interesse». Lidl und Aldi verweisen auf ruhigere Randzeiten, Migros auf den Online-Einkauf.

Regula Buehler findet, dass in der Schweiz noch mehr gehen sollte – denn das Ausland holt auf: Bei der Supermarktkette Carrefour in Belgien kann neu jeden Tag, ausser samstags, von 14 bis 16 Uhr in Ruhe eingekauft werden. Ferner machen Grossbritannien und Deutschland bei der Thematik vorwärts.

Für Hans Ruedi Schnellmann ist klar: «Die Stille Stunde bereichert die Gesellschaft und einen selbst.» Er hofft, dass er und sein Team «einen kleinen Beitrag leisten und etwas anstossen können.» Schnellmann empfiehlt allen, die die Stille Stunde noch nicht kennen oder gar skeptisch sind – auch den anderen Detailhändlern: «Man muss es einmal erlebt haben.»

Wie findest du die «Stille Stunde»? Schreibs in die Kommentare!

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veröffentlicht: 15. Mai 2023 08:06
aktualisiert: 4. März 2024 14:51
Quelle: ZüriToday

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