Zürich

Was passiert, wenn die Gefängnistür hinter dem Ex-Häftling ins Schloss fällt?

Resozialisierung

Was passiert, wenn die Gefängnistür hinter dem Ex-Häftling ins Schloss fällt?

· Online seit 07.11.2022, 08:19 Uhr
Die Haftstrafe ist abgesessen, die Schuld verbüsst. Ein ehemaliger Straftäter kommt wieder auf freien Fuss und soll, wie es heisst, resozialisiert werden. Was das genau bedeutet, erklärt Roger Hofer Studiengangsleiter Soziale Arbeit an der ZHAW.
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Am Dienstag wurde bekannt, dass Brian Anfang November aus der Haft entlassen wird. Resozialisierung und Wiedereingliederung in die Gesellschaft, so der Plan.

Was genau eine Bewährung beinhaltet, wie sich eine Resozialisierung gestaltet und was es von der Bevölkerung und Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern braucht, um einen straffällig gewordenen Menschen wieder im «Leben Draussen» aufzunehmen erklärt Roger Hofer im Interview.

Die Arbeit des Sozialarbeiters

Roger Hofer ist Dozent und Studiengangleiter an der ZHAW im Departement Soziale Arbeit S und im Institut für Delinquenz- und Kriminalprävention tätig. Hofer war über 20 Jahren selber Sozialarbeiter. Sechzehn davon arbeitete er im Erwachsenen Straf- und Massnahmenvollzug.

Was kann man sich unter der Arbeit eines Sozialarbeitenden während der Haft vorstellen?

Roger Hofer: Das ist sehr unterschiedlich. Es kommt auf den Auftrag, die Grösse der Anstalt, die Progressionsstufe sowie das professionelle Verständnis der Institution an.

Allgemein geht es darum, dass die Sozialarbeitenden die Bezugsperson des Klienten ist. Das heisst, Ansprechsperson der Klienten sind. Diese Arbeit beinhaltet u.a. das Bearbeiten von deliktrelevantem Verhalten dieser Person aber auch Finanzen, oder Hafturlaub, Kontakt zu Angehörigen oder auch allgemeine Abläufe im Gefängnis. Als Sozialarbeiter managed man fast alles, was mit der inhaftierten Person in Zusammenhang steht.

Wie gestaltet sich die Arbeit in der Zeit der Bewährung?

Das ist insofern natürlich anders, weil sich der/dieKlient*in auf freiem Fuss befindet und bereits die verschiedenen Progressionsstufen des Schweizer Straf- oder Massnahmenvollzuges durchlaufen hat. Das übliche Beispiel wäre hier: Geschlossener Vollzug, offener Vollzug, Arbeitsexternat (die Person geht einer Arbeit ausserhalb der Institution nach), Bewährung. Das sind die vier Stufen, wenn es klassisch abläuft.

Der/die Inhaftierte muss sich in jeder Vollzugsform bewähren, um den nächsten Öffnungsschritt gehen zu können. Die Bewährungshilfe kommt ganz am Schluss. Die Aufgaben dort sind auch nochmal etwas anders. Wenn zum Beispiel Probleme bei der Arbeit oder der Wohnsituation auftreten, aber auch im Umgang mit deliktrelevanten Risikosituationen. Ein Klient oder eine Klientin mit einer Suchtthematik ist zum Beispiel damit im geschlossenen Vollzug weniger konfrontiert, als draussen in Freiheit, wenn er wieder alte Bekannte trifft.

Was sind die Schritte der Resozialisierung nach der Haft?

Das Ziel der Sozialarbeit ist, dass man bei Menschen, die verurteilt und inhaftiert werden, vom ersten Tag an eigentlich an die Resozialisierung denkt. Wir müssen uns mit dem/der Klient*in gemeinsam überlegen, wo er oder sie zum Beispiel Bildungsdefizite hat. Wurde das Delikt eventuell im Zusammenhang mit Arbeitslosigkeit aufgrund von fehlender Ausbildung begangen? Dann muss man überlegen, wie der/die Klient*in die Vollzugszeit nutzen muss, um diese Lücken zu schliessen. Das passiert alles nicht erst, wenn die Bewährungsstufe erreicht ist, sondern ab Tag eins im Vollzug.

Aber die Klienten müssen da ja auch mitmachen und motiviert sein?

Ja das ist extrem davon abhängig, wie fest die Inhaftierten mitmachen. Im Strafgesetzbuch ist in Artikel 75 StGB auch festgehalten, dass das soziale Verhalten des Gefangenen gefördert werden muss. Insbesondere die Möglichkeit straffrei zu leben. Weiter steht im selben Artikel, dass der Gefangene aktiv dabei mitzuwirken hat.

Dass aber eine Person in der Gefängniszeit dazu nicht, oder noch nicht bereit ist, kann auch vorkommen. Dabei ist natürlich ganz viel Motivationsarbeit gefordert und zwar von allen, nicht nur im sozialarbeiterischen Setting sondern auch in der Therapie oder seitens der Arbeitsagogik.

Wenn die Bewährung dann da ist, wo sind da die Herausforderungen?

Diese letzte Progressionsstufe ist sehr herausfordernd, da sich der/die Klient*in wieder in Freiheit befindet, auf sich selbst gestellt ist und die Bewährungshilfe kein lückenloses Monitoring mehr bieten kann und auch nicht mehr muss. Der /die Klient*in muss sich nun bewähren und soll das im Vollzug erarbeitete und erlernte nun draussen in der Freiheit anwenden.

Die Bewährungshilfe steht hier der Klientel beratend, begleitend aber auch konfrontierend zur Seite und hilft den Schritt der Resozialisierung und des deliktfreien Lebens zu bewältigen.

Die Gesellschaft will zu Recht, dass Menschen weggeschlossen werden, wenn sie ein Verbrechen begangen haben. Der Vollzug hat den Auftrag diese Personen auf ein zukünftiges deliktfreies Leben in Freiheit vorzubereiten, muss dies aber hinter Mauern üben, was manchmal realitätsfremd ist.

Deshalb ist es wichtig, dass die inhaftierten Personen, falls der Schutz der Gesellschaft gewährleistet ist, Schritt für Schritt die verschiedenen Progressionsstufen im Vollzug durchlaufen kann.

Es gibt aber zum Glück viele Arbeitgeber, die sagen, dass es ihnen keine Rolle spielt was die Person früher gemacht hat. Die sagen: «Er muss arbeiten können und ich muss ihm vertrauen können, alles andere spielt keine Rolle.» Es gibt natürlich auch die, die genau das sagen, dann aber die Arbeitnehmer ausnutzen. Es braucht definitiv den Willen der Gesellschaft, um zu sagen «Wir wollen auch diese Menschen wieder integrieren»

Wie sieht es mit Ortswechseln aus?

Das war auch immer wieder Thema. Wenn der Klient beispielsweise wieder zurück in sein Wohnort will, besprechen wir das mit ihm. Ob das denn Sinn mache, dorthin zurück zu gehen wo eventuell frühere Freunde sind. Falls man zum Beispiel zusammen Drogen genommen hat oder Raubüberfälle begangen hat. Dann ist das ein abwägen und diskutieren. Entwurzelt wird niemand gerne und unser Job ist es, mögliche Konsequenzen aufzuzeigen. Vielleicht merkt der Klient dann auch selber, dass ein Ortwechsel sinnvoll ist um es zu schaffen und ein normales Leben zu führen.

Was kann die Gesellschaft beitragen?

Wie bereits gesagt, hat es mich immer wahnsinnig gefreut, wenn ich Arbeitgeber hatte, die ich anrufen und eine inhaftierte Person vermitteln konnte. Das gleiche gilt auch auf dem Wohnungsmarkt. Da verstehen wir die Vermietenden natürlich auch, wenn man Personen mit Vorstrafen und belastenden Betreibungsauszügen nicht unbedingt möchte, weil sie Angst vor Mietausfällen haben. Aber auch ich als Nachbar muss bereit sein, solchen Menschen wieder eine Chance zu geben.

Gibt es eine staatliche Regelung, die die Mieten zum Beispiel absichert?

Nein, das gibt es nicht. Wenn jemand auf Sozialhilfe angewiesen ist, zahlt das Sozialamt. Es gibt private Träger, die zum Teil für eine Deckung bürgen. Das sind aber ganz wenige.

Wenn Personen rückfällig werden, teilen die das ihren Sozialarbeitern selber mit?

Wenn Sozialarbeitende eine gute Beziehung zum Klient aufbauen kann, ist es schon möglich, dass der Klient sein Fehlverhalten selber gesteht. Es kann aber auch sein, dass der Klient nichts sagt und die Bewährungshilfe dann später erfährt, dass die jeweilige Person wieder in Untersuchungshaft sitzt.

Kommt ein Rückfall oft vor?

(lacht) Die Frage habe ich befürchtet. Das ist sehr schwierig zu beantworten und kommt darauf an, wie die Rückfallquote erfasst wird. In einigen Ländern fliessen z.B. nur ähnlich schwere Delikte vorangegangene in die Statistik ein. Andere Länder erfassen zum Beispiel jede nachfolgende kriminelle Tat, für die jemand verurteilt wird, als Rückfall. Einheitliche und somit vergleichbare Zahlen mit anderen Ländern sind schwierig zu finden.

Wieso haben sie sich damals entschieden, im Vollzug zu arbeiten?

Weil die Arbeit unheimlich spannend ist. Die Sozialarbeitenden, die im Vollzug arbeiten, müssen trotz der manchmal schwierigen Dynamik eine wertschätzende Haltung gegenüber der inhaftierten Person haben. Deren Verhalten wird kritisiert nicht sie als Person.

Hast du Erfahrung mit den Vollzugsstufen und Massnahmen und würdest mit uns darüber sprechen? Melde dich doch via Whatsapp bei uns.

veröffentlicht: 7. November 2022 08:19
aktualisiert: 7. November 2022 08:19
Quelle: ZüriToday

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