Zürich

Zürcher Gymischülern ist Lernen für Matura zunehmend wurst

Matura ohne Effort

Zürcher Gymischülern ist Lernen für Maturaprüfung zunehmend wurst

· Online seit 05.07.2024, 06:05 Uhr
Die Matura in der Tasche haben auch zunehmend junge Frauen und Männer, die sich kaum um die Abschlussprüfungen scherten. Schülerinnen und Schüler wägten Aufwand und Ertrag ab, sagt ein Gymilehrer. Manche Lehrpersonen spielen mit.
Anzeige

An den Maturafeiern im Kanton Zürich lassen sich diese Woche wieder tausende junge Frauen und Männer für ihren letzten Effort ehren. Sie haben nach einer langen Lernphase die Abschlussprüfungen im Gymi bestanden und können ihr Maturazeugnis in Empfang nehmen. Nun stehen ihnen alle beruflichen Türen offen. Die Matura in der Tasche haben aber auch zunehmend Schülerinnen und Schüler, die sich kaum um die Abschlussprüfungen scherten.

Freudig erzählte ein Maturand einer Zürcher Privatschule mit anerkannter eidgenössischer Matur einer Bekannten in der S-Bahn, wie er unvorbereitet an der mündlichen Französischprüfung aufgetaucht sei.

Lehrerin habe ihm eine Vier statt eine Eins gegeben

Prüfungsaufgabe war laut dem jungen Mann, auf Französisch sich und seinen künftigen beruflichen Weg vorzustellen. Der Lehrerin habe er gestanden, dass er sich nicht vorbereitet habe, so der Schüler. «Ich sagte ihr: ‹Sie können mir eine Eins geben. Ich habe nicht gelernt.›» Darauf habe die Lehrerin aber geantwortet, dass sie das nicht tun werde. «Sie sagte, sie gebe mir eine Vier, aber das müsse unter uns bleiben», behauptete der Maturand.

Glück hatte der Schüler in seiner Gymikarriere angeblich auch bei einer Prüfung, die nicht Teil der Matur war. Nur er und zwei weitere Schüler seien an die Chemie-Prüfung gekommen, der Rest der Klasse habe geschwänzt, sagte der Maturand. Sie hätten beim Lehrer deshalb um eine Open-Book-Prüfung gebettelt mit der Begründung, dass sie ja schliesslich gekommen seien. «Der Lehrer fand dann: ‹Stimmt, ihr habt das verdient. Ihr dürft das Chemie-Buch benutzen›», sagte er stolz.

«Wir machten vor allem Party»

An einem Freitag wenige Tage zuvor sass eine junge Frau mit Gepäck erschöpft im Abteil einer Zürcher S-Bahn. «Wir waren für eine Lernwoche in Italien», erzählte sie einem Bekannten, den sie spontan im Zug getroffen hatte. Gelernt hätten sie «natürlich kaum». «Wir machten vor allem Party.»

Ihr Bekannter antwortete, dass es ihm ähnlich gehe. Er sei noch kaum zum Lernen gekommen. Am Wochenende komme er auch nicht mehr dazu, da ihn ein Kollege zu einem Surf-Ausflug eingeladen habe. «Es spielt sowieso keine Rolle mehr, ich habe eh zu wenig gelernt und habe am Montag die erste Prüfung», meinte er abschliessend.

«Weniger mit persönlichem Wert und Ehre verbunden»

Bei den Aussagen handelt es sich nicht bloss um Geschwätz. Philippe Wampfler ist Deutschlehrer an der Kantonsschule Uetikon und Fachdidaktiker am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Zürich. Könnten Schülerinnen und Schüler abschätzen, dass sie die Prüfungen auch mit schlechten Noten bestünden, komme es in Ausnahmefällen vor, dass sie sich nicht darauf vorbereiteten, sagt er. Teilweise handle es sich auch um Racheaktionen gegenüber ungeliebten Lehrkräften.

«Letztlich hat sich aber die gesellschaftliche Bedeutung von Abschlussprüfungen leicht verändert, sie sind weniger mit persönlichem Wert und Ehre verbunden», so Wampflers Fazit. Schülerinnen und Schüler optimierten stärker und wägten Aufwand und Ertrag ab.

Scan den QR-Code

Du willst keine News mehr verpassen? Hol dir die Today-App.

Tatsächlich kommt es vor, dass Schülerinnen und Schüler an Prüfungen das Zepter übernehmen. Als Experte und prüfender Lehrer erlebe er keine solche Milde, sagt Philippe Wampfler. Es gebe immer wieder sehr harte Maturanoten und Schülerinnen und Schüler, welche die Prüfung nicht bestünden. «Letztlich sind aber einige Lehrpersonen damit überfordert, wenn sich Schülerinnen und Schüler gar nicht auf eine Prüfung vorbereiten.»

KI-Effekt bei Prüfungen

Forscher kommen zum Schluss, dass künstliche Intelligenz (KI) künftig viele menschliche Tätigkeiten ersetzen wird. In einer Studie der deutschen Vodafone Stiftung aus Deutschland gaben 74 Prozent der befragten Jugendlichen an, KI-Systeme bereits zu nutzen. 27 Prozent erhoffen sich komplette Lösungen oder Texte.

Philippe Wampfler sieht bei der Vorbereitung auf die schriftlichen Maturaprüfungen einen KI-Effekt. «Im schlimmsten Fall sehen Schülerinnen und Schüler das von ihnen Verlangte als sinnlos an, weil dies später von KI erledigt wird.» Wegen der Möglichkeiten von KI habe sich die Haltung der Schülerinnen und Schüler zur Maturaprüfung geändert. Die Kantonsschule Uetikon werde deshalb die Maturaprüfungen anpassen. «Wir müssen uns überlegen, wie viel Lektüre vor der Deutschmatura noch sinnvoll ist.»

Gerade genügende Leistungen könnten zu Problemen führen

An Wert soll die Maturaprüfung nicht verlieren. An der Maturitätsprüfung solle grundsätzlich das gezeigt werden, was die Schülerinnen und Schüler könnten und wüssten, sagt Christian Metzenthin, Präsident des Mittelschullehrpersonenverbands Zürich (MVZ). Eine sorgfältige Vorbereitung auf die Maturitätsprüfungen habe einen Wert für sich. «Gleichzeitig wird eine ganze Reihe von überfachlichen Kompetenzen geschult, welche für ein erfolgreiches Studium wichtig sind.»

Lucius Hartmann ist Präsident des Vereins Schweizerischer Gymnasiallehrerinnen und -lehrer. An der Kantonsschule Zürcher Oberland unterrichtet er Mathematik, Latein und Griechisch. Die grosse Mehrheit der Schülerinnen und Schüler bereite sich aus seiner Erfahrung immer noch sorgfältig auf die Prüfungen vor, sagt er. «Dies konnte ich bei den aktuellen Maturaprüfungen selbst wieder verifizieren.» Auf weniger Motivierte sieht er in einer nach wie vor leistungsorientierten Gesellschaft Probleme zukommen. «Beim Studium und spätestens auf dem Arbeitsmarkt dürften sie feststellen, dass gerade genügende Leistungen je nachdem nicht für das präferierte Studium oder den Traumjob ausreichten.»

veröffentlicht: 5. Juli 2024 06:05
aktualisiert: 5. Juli 2024 06:05
Quelle: ZüriToday

Anzeige
Anzeige
zueritoday@chmedia.ch